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Titel
Das Jungfraujoch. Eine Geschichte der Hochalpinen Forschungsstation Jungfraujoch 1922–1952


Autor(en)
Diener, Leander
Erschienen
Zürich 2022: hier + jetzt, Verlag für Kultur und Geschichte
Anzahl Seiten
207 S.
Preis
€ 39,00
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Julian Schellong, Institut für Geschichte, Fachgebiet Neuere Geschichte, Technische Universität Darmstadt

Leander Dieners Buch über das Jungfraujoch erzählt die Erschließung dieses markanten Berges in über 4.000 Metern Höhe durch eine Zahnradbahn und eine internationale hochalpine Forschungsstation zwischen 1922 und 1952. 2022 jährten sich einige wichtige Wegmarken, die ein Anlass für dieses Buch sind: 1912 wurde die Bahnverbindung fertiggestellt, 1922 die Kommission für Bau und Betrieb der Forschungsstation eingerichtet und die ersten wissenschaftlichen Messungen durchgeführt. Damit wendet sich das Buch an ein breites Publikum, es hat gleichzeitig aber auch einen historiographischen Anspruch: Die Forschungsstation Jungfraujoch soll als Sonde dienen, um eine Geschichte der Wissenschaftspolitik und der internationalen Vernetzung der Schweiz in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu erzählen. Diese zwei Absichten werden ergänzt mit kurzen, typografisch abgesetzten Einschüben zu historischen Kontexten und Methoden der hochalpinen Forschung, die einen Überblick über allgemeine zeitgenössische Entwicklungen geben. Außerdem präsentiert das Buch zahlreiche Fotos von wissenschaftlichem Equipment und beeindruckenden Bergpanoramen sowie architektonische Zeichnungen.

Das chronologisch strukturierte Buch beginnt mit den ersten Überlegungen zu einer Eisenbahn auf die Jungfrau in den 1880er-Jahren (Kap. I) und endet mit der Gründung des Schweizerischen Nationalfonds (SNF) 1950 (Kap. V). Der Autor hat dafür vor allem Archive aus der Wissenschaftsverwaltung und aus Forschungsinstitutionen (Stiftung der Forschungsstation, Bundesarchiv Bern, Max-Planck-Gesellschaft) sowie wissenschaftliche Veröffentlichungen ausgewertet.

Zunächst reiht Diener die infrastrukturelle Erschließung des Dreiermassivs Mönch-Eiger-Jungfrau in spektakuläre Eisenbahnprojekte ein, die seit Mitte des 19. Jahrhunderts in Europa und Nordamerika vorangetrieben wurden. In diesen Projekten steckten technischer Fortschritt und unternehmerische Kühnheit – der praktische Nutzen dieser Bahnen lässt sich nach Dieners Lesart aber kaum erkennen. Im Fall der Jungfrau-Bahn sei selbst den beteiligten Personen im Rückblick die Motivation nicht klar gewesen. Die Konzession, die der Schweizer Bundesrat 1894 für den Bau erteilte, forderte die Errichtung eines wissenschaftlichen Observatoriums und eine Indienststellung der Bahn für die Forschung. Dieser Zweck war vom Antragssteller Adolf Guyer-Zeller aber erst nachträglich in sein Gesuch eingefügt worden und blieb im Beschluss des Bundesrates vage (S. 34f.). Diener zeigt, dass nicht die Bahn der Wissenschaft, sondern das Versprechen auf Wissenschaft der Konzession der Bahn diente: Die Strecke war das Ziel.

So war die Forschungsstation auf dem Gipfel noch nicht einmal fertig geplant, als die Bahn die letzte Etappe von der Kleinen Scheidegg zum Jungfraujoch 1912 in Betrieb nahm. Nichtsdestotrotz meldeten Wissenschaftler aus der Schweiz wie aus dem Ausland großes Interesse an einem Observatorium an, wie Empfehlungsschreiben von Unterstützern belegen (S. 52ff.). Das Jungfraujoch sollte als natürliches Laboratorium für unterschiedliche Disziplinen dienen, das Messungen unter extremen Umweltbedingungen, in fast freier Atmosphäre und abseits menschlicher Immissionen ermöglichte. So groß der wissenschaftliche Nutzen eines Observatoriums sein sollte, so unterschiedlich waren die disziplinären Ansprüche an den genauen Standort: Die Astronomie verlangte nach erschütterungsfreiem Untergrund und einer exponierten, aber windgeschützten Stelle, die Meteorologie brauchte Zugriff auf ausgewählte Wetterphänomene und Schutz an Positionen, die über Jahre möglichst unverändert blieben. Und zwischen all dem spazierten auch noch Touristinnen und Touristen, die zwar für den wirtschaftlichen Betrieb der Bahn notwendig waren, aber schon mit dem Rauch von nur einer Zigarette die sensiblen Messungen von Luftpartikeln verzerrten.

In Kapitel II beleuchtet Diener die komplizierte Finanzierung für Bau und Betrieb der Forschungsstation. Der Bund hatte eine Beteiligung daran ausgeschlossen und die Schweizerische Naturforschende Gesellschaft (SNG) verfügte nicht über das Budget, um Risiken abzusichern. Nach zähen Verhandlungen wurde 1931 eine Stiftung unter der Führung der SNG eingerichtet, in die private Spender und die Bahnbetreiber einzahlten und die Absicherung von regionalen Banken erhielt. Die Stiftung unterstand Schweizer Recht, versammelte aber explizit ausländische Partner, um einen Kompromiss zwischen nationaler Kontrolle und internationaler Vernetzung zu erreichen (Kap. III). Diener sieht das als erfolgreichen Versuch, die Position der Schweiz in der europäischen Wissenschaftslandschaft zu stärken, beispielsweise im Vergleich mit der deutschen Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft.

In dieser Form nutzte die Schweiz die 1931 endlich eröffnete Forschungsstation als Mittel, um sich „unter dem Deckmantel der Wissenschaft" (S. 112) als selbstbewusster, aber politisch neutraler Akteur auf internationaler Bühne zu präsentieren. Die Station wurde geöffnet für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus der ganzen Welt, deren Herkunftsstaaten sich ebenfalls im Lichte der schimmernden Sphinx-Kuppel sonnen wollten (Kap. IV). Unter den wissenschaftlichen Gästen waren auch das Reichsluftfahrtministerium und das Heereswaffenamt aus Deutschland. Sogar die nationalsozialistische Universum Film AG (UFA) drehte einen Propagandafilm auf dem Jungfraujoch.

Nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges blieben internationale Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus und der Betrieb in der Forschungsstation reduzierte sich auf ein Minimum. Im Krieg verhandelte die Stiftung unter Vorsitz der SNG die Fragen, wie die Forschungsstation unter Mangel an Wissenschaftlern, Ressourcen und Aufmerksamkeit weiterbetrieben werden konnte, und vor allem wozu: Zur „reinen“ Grundlagenforschung oder für praktische, allenfalls kriegswichtige Anwendungen?

Diese Frage blieb zentral in der Weiterentwicklung und Institutionalisierung der Wissenschaftspolitik auf Bundesebene nach Ende des Zweiten Weltkrieges. In Kapitel V arbeitet Diener überzeugend heraus, dass die Forschungsstation auf dem Jungfraujoch eine positive Referenz für den Aufbau der Wissenschaftsförderung auf Bundesebene und für den SNF war. Mit dem erfolgreichen Aufbau der Jungfraujoch-Station argumentiert er gegen das Narrativ, die Schweiz sei in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in der Forschung von anderen europäischen Staaten abgehängt worden. Diese Behauptung verfing bereits bei Zeitgenossen, vor allem aus der Wirtschaft, die mehr Investitionen in Forschung und Entwicklung forderten. Tatsächlich habe die hochalpine Forschungsstation aber gezeigt, wie Forschung und ihre Förderung in Großprojekten und mit zentraler Steuerung funktionieren könnte. Es war Alexander von Muralt, der jahrzehntelang Präsident der Jungfraujoch-Kommission, des Stiftungsrats und des Direktoriums der Forschungsstation war, der 1952 die Initiative zur Gründung des SNF vorlegte.

Das Buch argumentiert plausibel, wie wichtig die Forschungsstation auf dem Jungfraujoch für die Entwicklung des schweizerischen Wissenschaftssystem war und kommt damit zu neuen Erkenntnissen. Allerdings stellt es die Internationalisierung dabei als vergleichsweise problemlos dar. Andere wissenschafts- und technikhistorische Studien zeigen jedoch, dass in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts die internationale Kooperation bei großen Wissensinfrastrukturen oder beim grenzüberschreitenden Austausch von Daten an Nationalismen scheiterten.1 Der Zerfall der großen europäischen Imperien nach dem Ersten Weltkrieg hatte direkte Folgen für die epistemischen Grenzen und Beobachtungsgegenstände von geophysikalischen und meteorologischen Forschungsinfrastrukturen gerade in den Alpen.2 Die Verstrickungen der Jungfraujoch-Station in die europäischen Faschismen werden in dem vorliegenden Buch zwar nicht ausgespart, hätten aber ausführlicher dargestellt werden können. Mit Blick auf diese Aspekte bleibt zweifelhaft, ob die Internationalisierung der Wissenschaft in der Schweiz wirklich als eine reine Erfolgsgeschichte dargestellt werden kann.

Das Buch zielt auch auf Leserinnen und Leser außerhalb des Fachs und ist über Grußwörter von Stiftung und Kommission der Forschungsstation sowie dem Departement für auswärtige Angelegenheiten institutionell mit dem schweizerischen Wissenschaftssystem verbunden. Dies mag der Grund sein, warum die historische Darstellung an manchen Stellen etwas wohlwollend ausfällt.

Leander Diener hält schließlich auch fest, dass die Forschungsstation Jungfraujoch vom gegenwärtigen Ausschluss der Schweiz aus der europäischen Wissenschaftsförderung nicht betroffen sei (S. 188). Interessanter noch wäre umgekehrt eine Frage, die sich mit diesem Buch angehen ließe: Welche Rückschlüsse kann man aus der Geschichte der Forschungsstation ziehen, um Wissenschaftssysteme in der Schweiz und in Europa gut aufzustellen? Möglicherweise könnte das auch die aktuellen Debatten um das Verhältnis der Förderungen für Natur- und Geisteswissenschaften durch den SNF befruchten.3

In jedem Fall bietet das Buch einen gut verständlichen Zugang zu einem faszinierenden Kapitel der schweizerischen Wissenschaftsgeschichte. Auch scheut sich der Autor nicht vor kurzen Einblicken in die naturwissenschaftliche Forschung, beispielsweise in die Atmosphärenphysik oder in die Messung von kosmischer Strahlung. So wird anschaulich, was die Forscherinnen und Forscher auf dem Jungfraujoch täglich beschäftigte. Damit macht das Buch Lust auf Wissenschaftsgeschichte. Es ist kurzweilig geschrieben und mit Gewinn zu lesen, auch wenn es teilweise nicht den gesamten Forschungsdiskurs berücksichtigt. Eine Lektüre lohnt sich, schon allein wegen des spektakulären Bildmaterials.

Anmerkungen:
1 Paul N. Edwards, Meteorology as Infrastructural Globalism, in: Osiris 21,1 (2006), S. 229–250.
2 Deborah Coen, Climate in Motion. Science, Empire, and the Problem of Scale, Chicago 2006.
3 Dazu hat sich unlängst u.a. Sacha Zala geäußert, pointiert etwa im Interview „Wir müssen den Nationalfonds auflösen“, in: NZZ Magazin, 08.04.2023, https://www.zala.ch/doc/2023-04-08_NZZ-Magazin.pdf (12.05.2023).

Redaktion
Veröffentlicht am
14.06.2023
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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit infoclio.ch (Redaktionelle Betreuung: Eliane Kurmann und Philippe Rogger). http://www.infoclio.ch/
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